Woyzeck-Interpretation

'Interpretation' gilt in der Literaturwissenschaft mittlerweile als verdächtig, wobei Susan Sontags "Against Interpretation" nicht einmal die Hauptrolle spielt. Allerdings stellen bereits kompetente Interpretationstheorien wie die von Emil Staiger klar, dass Interpretation Ergriffenheit voraussetzt und nicht rein kognitiv und schon gar nicht vordergründig pedantisch betrieben darf, wogegen sich Susan Sontag und auch Hans Magnus Enzensberger berechtigterweise wenden. Interpretation, falsch angewendet, zerstört eher, als dass sie hilft. Richtig angewendet, Sinnlichkeit und Geist als verscheidene Dimensionen begreifend und zusammenführend, und dabei ihren relativen Antagonismus nicht aus den Augen verlierend, führt zu einem intensivierten Erlebnis. Im Falle von Georg Büchners Woyzeck-Fragment ist umsichtiges Interpretieren, d.h. auch das Wissen um ästhetische Gesetze usw., unabdingbar. Ohne korrektes Idealisieren und Formelwissen kommt man in Mathematik und den Naturwissenschaften nicht weit, das gleiche gilt zumindest partiell auch für das Literaturverständnis Die Bühne oder auch der Roman stellen das Labor der Anthropologie dar, Schiller hat die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten festgehalten. Wer dagegen mit der Moderne argumentiert, muss wegen Relativitätstheorie und Quantenmechanik auch Euklid, Pythagoras und Newton aus dem Schulunterricht eliminieren.

 

Maßgeblich für die literarische Qualität eines Werks ist dessen innere Form (Link: Schiller, ästhetische Erziehung, Brief 22 ). Die Form der Woyzeck-Handschriften bestimmt sich durch die metaphorische Verklammerung. Sie identifiziert das weibliche Opfer nicht nur als Mutter überhaupt, sondern als Woyzecks (in der 1. Entwurfsstufe Louis') Mutter. Die innere Stimme fordert daher den Muttermord. Entsprechend stellt die Satire der (pädophilen) Nebenfiguren Hauptmann und Doktor einen symbolischen Vatermord dar: Der Vater wird nicht erstochen, sondern sozusagen totgelacht. 

Im Rahmen der analytischen Psychologie von C.G.Jung und Erich Neumann, die in der sogenannten 'Heldenreise' und 'Nachtmeerfahrt' kulturell präsent ist (Film, Schreibwerksatt), gilt:

" Zu den Grundkonflikten des Heldendaseins, damit aber auch zu jeder Persönlichkeitsentwicklung, gehört das Tun des Bösen. 'Weltelterntrennung' und "Ur-Elternmord' sind die großen Symbole, welche Tat und Untat des Helden bezeichnen, die zugleich die notwendige Befreiung des Ich ist. So ist auch im Normal-Leben des Intividuums z.B. der - symbolische - Elternmord eine nicht zu überspringende Entwicklungsphase, und wie eine große Anzahl von Fehlentwicklungen lehrt, wird oft genug der Vorzug, ein 'gutes Kind' zu sein, das den Elternmord scheut, mit dem gefährlichen Opfer der Lebens-Selbstständigkeit bezahlt." (Link: Erich Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik, Buch: S. 71)

Auf der Bühne misslingt die Selbstkonstituierung Woyzecks als Person, ästhetisch ist indes die tragische Variante der vorbildlichen meistens vorzuziehen: "Dass das sichere und kollektiv gestempelte Wert-Wissen der alten Ethik um Gut und Böse (vgl. Woyzeck: H1,12, Freies Feld: "Du sollst nicht töten") aufgegeben und die Zweideutigkeit der inneren Erfhrung gewählt wird (vgl. Louis: H1,6: "Stich die Woyzecke tot"), kommt immer wieder dem Individuum teuer zu stehen, denn immer wieder ist es ein Gang ins Ungewisse mit dem ganzen Risiko (Woyzecks sogenannter Wahnsinn), welches für jedes verantwortliche Ich das Annehmen des Bösen bedeutet." (Neumann, s.o., S. 74)