Interpretation und Analyse     Georg Büchner: Woyzeck


Ein einfacher, armer Soldat (der am Ende in der Bibel seiner Mutter "schön Gold" findet!) ersticht seine Geliebte, mit der er ein Kind hat. Eifersucht ist mit im Spiel, alles andere, das Ernährungsexperiment und zusätzliche Dienste, wie das Rasieren, spielen in dem ersten Handschriftenentwurf, in dem die Mordhandlung stattfindet, noch keine Rolle. Der "Wahnsinn" allerdings schon. Dessen Genese ist zunächst rätselhaft und in der Forschung umstritten. Merkwürdig genug verlangt die Stimme aus dem Boden die "Woyzecke" zu erstechen. Heißt sie auch Woyzeck? Das bleibt ungewiss, denn der Täter wird ursprünglich nur als Louis aufgeführt, über seinen Familiennamen schweigt Büchner sich aus.

 

 

Wer Büchners Woyzeck-Fragment verstehen will, der muss genau hinschauen und einiges wissen. Aber nichts über den historischen Woyzeck, sondern über das Drama der - insbesondere französischen - Romantik und über Rhetorik. Die meisten Liedtexte im Woyzeck gehören in die Sparte "Allegorie", das heißt, wenn darin von Jagd, Tieren und Jägern die Rede ist, sind andere Dinge gemeint, also vor allem sexuelle. Auch die Märchenparabel vom einsamen Kind gehört in diese Schublade. Büchners Dramenfragment benutzt sozusagen eine für Gebildete gängige Geheimsprache. Ein Schlüsselwort ist die "Sonne". Bereits in >Dantons Tod< legt Büchner die Bedeutung dieses Schlüsselwortes fest, die er übrigens aus dem >Hamlet< von Shakespeare übernommen hat. Bei der Sonne ist nicht das Licht gemeint (Geist und Bewusstsein), sondern die Hitze (Sexualität). Eine Allegorie zu verstehen , also zu entschlüsseln, ist ein bisschen wie eine Schnitzeljagd. Man muss auf jeden Schnipsel achten. Beispiel: Hinweise auf groß und klein, die Kombination von Tier und Mensch und ob dabei (verschlüsselte) Sexualität  mit im Spiel ist. Und dann muss man natürlich aufpassen, wo von Vater und Mutter die Rede ist. Viel Spaß beim Herausfinden.

Warum das Mordmotiv in Büchners Woyzeck-Fragment diskutieren? Scheint das nicht auf Anhieb klar? Wahnsinn in Verbindung mit Eifersucht?

Ganz und gar nicht. Diese Kombination kann nämlich die dramaturgische Ausgestaltung und Funktion des Mordkomplexes - insbesondere im Kontext des vermeintlichen Sozialdramas - nicht erklären. Auch der Grund des Wahnsinns bleibt in der gängigen Rezeption schleierhaft und entsprechend umstritten, die übliche hermeneutische Notlösung ist der als Prämisse gesetzte, so aber nicht statthafte historische Verortung, die auf den eigentlich zu unterstellenden und zu suchenden intrinsischen Zusammenhang von Mordmotiv und Wahnsinn verzichtet. Kaum erklärbar aus dieser Perspektive: Die rituelle Einleitung der Tat mit anschließender Hinrichtung. Sie erfolgt nicht im Affekt sondern ist vorsätzlich geplant. Der Mordkomplex nimmt etwa ein Drittel des ersten Handschriftenentwurfs ein. Damit steht die Ausführung dessen, was die Stimme aus dem Boden fordert, im Mittelpunkt der Handlung. Außerdem entfallen dort die beiden allerseits zu dramaturgischen Hauptfiguren hochstilisierten Hauptmann und Doktor, d.h. der Menschenversuch und die Arbeitsüberlastung.

Das eigentliche Mordmotiv findet sich in Maries in exponiertester Situation ausgerufener, wörtlich verstandener Satz: "Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz." Es handelt sich um eine Antizipation, in allernächster Umgebung fällt das Stichwort "morgen". Woyzeck wird durchgehend mit dem Begriff "Stechen" assoziiert, zudem kauft er in der Szene vorher völlig überflüssigerweise ein Messer. Eine Argumentation dahingehend, dass Büchner der Satz unbeabsichtigt bzw. hermeneutisch unerheblich oder irreführend herausgerutscht sei, ist kaum vorstellbar. Ein Indiz dafür ist, dass die verschiedenen Deutungsansätze stillschweigend darüber hinweggehen.