"Erotische Obsessionen"

Am 11.7.2013 schreibt Manfred Koch in der NZZ:

 

"Im kommenden Oktober jährt sich Georg Büchners Geburtstag zum 200. Mal. Neue Biografien zeichnen das Leben und Werk des Dichters und Revolutionärs nach und setzen eigenwillige und nicht immer plausible Akzente.

 

Auf der Beletage von Georg Büchners Elternhaus residierte die «Rokokogrossmutter». Louise Reuss, deren jüngste Tochter 1812 den Spitalarzt Ernst Büchner geheiratet hatte, war eine extravagante Erscheinung. Als ehemalige Hofdame wollte sie im bürgerlichen Haushalt der Büchners von aristokratischen Lebensformen nicht lassen und empfing regelmässig, in pompöser Aufmachung inmitten ihrer Rokokomöbel thronend, einen Kreis gleichgesinnter Freundinnen zum Kartenspiel. Der 1813 geborene Georg sei ihr Lieblingsenkel gewesen, heisst es in den Familienzeugnissen, von ihm liess sie sich bevorzugt ausführen, wobei die Leute den Knaben oft scherzhaft gefragt hätten, «ob die schöne Dame seine Braut sei».

 

Prominente Obszönitäten

Büchner-Biografen haben sich oft gewundert über die exzessive Thematisierung der Sexualität im Werk eines jungen Mannes, der allem Anschein nach sehr sittsam aufwuchs (die calvinistische Mutter war prüde, der Mediziner-Vater hat ihn allenfalls «aufgeklärt» durch Konfrontation mit weiblichen Leichen im Anatomiesaal). Christian Milz glaubt jetzt des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Deutet nicht vieles darauf hin, dass Georg die schlüpfrigen Gespräche der in höfischer Mätressenwirtschaft erfahrenen Damen mitbekam? Sind nicht auch Verführungsversuche, erotische Spiele mit dem hübschen Knaben denkbar?

Direkt belegen lassen sich diese Vermutungen nicht. Es gibt allerdings eine dank ihrer Obszönität prominente Stelle bei Büchner, die an die Welt der Grossmutter erinnert: das Kartenspiel am Anfang von «Dantons Tod», in dem eine «Dame» ihrem Mann «Herz», anderen hingegen das rautenförmige «Carreau» – sprich: die Vagina – darbietet. Diese assoziative Brücke genügt Milz, um einen ganzen Familienroman der inzestuösen Verstrickung zu konstruieren. Sein Buch ist über weite Strecken eine tiefenpsychologische Achterbahnfahrt durch «Woyzeck», die beweisen soll, dass das Stück nur vordergründig von einem Eifersuchtsmord handelt.

In Wahrheit, das will Milz' «allegorische» Auslegung zeigen, geht es um die Versündigung einer übermächtigen Mutter-Instanz am «Kind» und deren Bestrafung: Woyzeck ersticht in Marie die «mythische Grosse Mutter» (die so etwas wie ein Amalgam aus Mutter, Grossmutter, dämonischer Weiblichkeit und verschlingender Natur ist). Plausibel ist diese Seelenanalyse nicht, auch wenn man dem Interpreten zugutehalten kann, dass das leidende Kind eine Obsession Büchners ist. Da die Quellen nichts hergeben, was seine These stützen könnte, entdeckt und knackt Milz überall «Chiffren», die Büchner, «der Rätselsteller», hinterlassen habe. Das Resultat ist ein Buch, das mehr über die Konjunktur des Themas Kindesmissbrauch verrät als über den Autor des «Woyzeck»." 

 

 

Kommentar des Autors

 

 

1. Entweder ist Herr Koch intellektuell überfordert oder er stellt mein Buch absichtlich falsch dar, warum auch immer ... 

 

2. habe ich meine Woyzeck-Analyse bereits 2006 in "texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik"  (Passagen Verlag, Wien) veröffentlicht, also vier Jahre, bevor das  Thema von den Zeitungen aufgegriffen wurde.

 

3. handelt es sich nicht um eine Büchner-Biografie, sondern in erster Linie um eine textanalytische Entschlüsselung, insbesondere des Woyzeck-Fragments in seinen verschiedenen Handschriftenentwürfen.

 

4. habe ich (wie gesagt bereits 2006) bei der Analyse der Symbole, Metaphern und der Dramaturgie eine im Woyzeck-Fragment angelegte Struktur aufgedeckt, deren Verständnis zum Handwerkszeug nicht nur eines Literaturwissenschaftlers oder Philologen, sondern auch des etwas anspruchsvolleren zeitgenössischen Publikums gehört: Schon die Parabel der Großmutter erzwingt als doppeldeutige Gleichniserzählung eine sorgfältige Allegorese. 

 

5. bin ich dabei auf das Mordmotiv  und den roten Faden von Kindesmord (auch im übertragenen Sinne gestoßen), während die Büchner-Forschung sich noch immer mit dem Mordkomplex im Woyzeck schwer tut. (Vgl. Andreas Beck: "Schluss mit dem Mord-Komplex! Überlegungen zur ,geschlossenen Form‘ und zum möglichen Ende des „Woyzeck“.)

 

 6. habe ich danach die anderen literarischen Werke Büchners unter die Lupe genommen und auch hier entsprechende Motive und sprachliche Strukturen herausgestellt, beispielsweise den Souffleur in "Dantons Tod", der seine Frau erstechen will, weil sie die Tochter zur Prostitution zwingt.

 

7. untersuchte ich anschließend Büchners Biografie und musste dabei feststellen, dass hier zwar keine lineare Verbindung zu Inzest usw. nachzuweisen war (was im Übrigen auch nicht beabsichtigt war), aber doch diverse Aspekte zum Vorschein kamen, die in den üblichen Biografien unter den Teppich gekehrt werden.

 

8. kann definitiv festgehalten werden, dass Büchners innere Spannungen zwischen seinen literarischen, philosophisch-wissenschaftlichen und politischen Interessen sehr viel bedeutsamer sind als eine ihm immer wieder unterstelltes mystische Trinität dieser Aspekte.

 

9. wundert das eigentlich keinen, der Büchners Werk mit offenen Augen liest.

 

10. stellt meine Woyzeck-Analyse eine Entschlüsselung dar und noch keine erschöpfende Interpretation, ist allerdings deren unabdingbare Vorausssetzung.

 

11. schreibt Johannes F. Lehmann, seines Zeichens Professor für Germanistik an der Universität in Bonn in Germanistik 54/2014 S. 530:

  

 „Milz greift ‚die Büchner-Forschung‘ frontal an. Im Zentrum steht eine neue Deutung des Woyzeck, die nicht den üblichen ‚Lesebrillen‘ von Büchner als Revolutionär und sozialkritischem Dichter folgt. Thema des Textes sei vielmehr die problematische Ganzheit des Menschen zwischen Vernunft und Sexualität. Letztere und insbesondere ihre tabuisierten Formen wie Inzest und Pädophilie bilden nach Milz den konstitutiven Subtext für den Woyzeck. Diesen versucht Milz durch eine akribische, die einzelnen Entwurfsstufen streng unterscheidende und zentrale Intertexte berücksichtigende, sehr genaue Mikroanalyse herauszuarbeiten. Indem Milz außerdem B.s. ‚Chiffren‘ entschlüsselt (z. B. stehe das Motiv der Sonne für Sexualität), kann er in der Tat ein Bild des Woyzeck zeichnen, das neu ist und weiter diskutiert werden muss. Woyzeck tötet Marie demnach nicht als ein von der modernen Arbeit und medizinischen Menschenversuchen deklassierter und entfremdeter Verlierer, sondern er richtet sie als Sünderin hin, nämlich wie Orest als Sohn seine Mutter ...“