Igel und rollender Kopf

Woyzecks dunkle Rede vom rollenden Kopf und dem Igel wird üblicherweise seinem Wahnsinn zugeschrieben. Indes ruft sie auch Bilder aus Shakespeares Hamlet auf, den Büchner auswendig kannte und der in der Romantik so etwas wie ein Popstar war. Die Jugendlichen fühlten sich, wie Georgs Büchners Bruder, reihenweise als "neuer Hamlet". In Shakespeares Drama rollen Schädel in der Totengräberszene zu Beginn des 5. Akts, das nebenstehende Bild (hängt im Frankfurter Städel) wurde von Eugène Delacroix zu Lebzeiten Büchners gemalt und zeigt Hamlet, der den Schädel des Narren aufgehoben hat. Die Totengräber singen vom hohlen Boden, auch das verwendet Büchner. Und Büchners "Igel" lässt sich auf das "Stacheltier" beziehen, das der ermordete König als Geisterscheinung im 1. Akt anspricht. Da geht es um Haare, die sich vor Schrecken angesichts der Unterwelt sträuben. Woyzeck spricht sozusagen wie der Geist bei Shakespeare. Letzterer offenbart ein furchtbares Geheimnis, Mord und - nach damaligem Verständnis - Inzest. Insofern darf man davon ausgehen, dass auch Woyzeck in der Eingangsszene etwas ankündigt, genauer Woyzeck und Andres, denn Andres beginnt mit dem (verschlüsselten) Lied. Siehe "Hasenlied". Woyzecks Vision des Untergangs von Sodom rundet das Bild ab. Es gibt übrigens zwei weitere Parallelen zu  dem besagten Stück von Shakespeare: Die Märchenparabel der Großmutter in dem Mordkomplex erfüllt genau die gleiche Funktion wie das Binnenspiel im Hamlet, mit dem der Dänenprinz die Schuld des Mörders identifiziert. Und dessen scheiternder  Gebetsversuch mit der Bitte um Vergebung entspricht Maries Szene, in der sie mit der Bibel in der Hand betet, was auch, wenigstens größtenteils, misslingt, denn "das Kind gibt ihr einen Stich ins Herz". Beide Male steht dem Erfolg der seelischen Wandlung entgegen, dass die Frucht der Übertretung des Moralgesetzes erhalten bleibt. Dem Dänenkönig, wie er selbst sagt, Krone und Frau des Ermordeten, im Falle Maries steht ihr das Kind im Wege. Nicht das kleine, dessen metaphorischer Stich ins Herz wäre kein Problem. Der physische Stich in Verbindung mit dem "Kind" offenbart die katastrophale Verstrickung.   

Mehr dazu in: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen. Wien, 2012.

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