Medizin und Interpretation

Krankheit für sich genommen,  meinte der alte Goethe, reiche als tragischer Gegenstand keineswegs aus. Auch dass Georg Büchner in der Thematisierung psychischer Erkrankung seiner Zeit weit voraus gewesen sei, ist ästhetisch mehr oder weniger irrelevant. Der menschenverachtende Umgang der Nebenfiguren Hauptmann und Doktor mit dem Soldaten Woyzeck spielt sich auf der Bühne erst ab dem zweiten Handschriftenentwurf ab, die Stimme aus dem Boden hört der Protagonist, der hier noch kein Proband ist, bereits von Beginn an. Eine kompetente Interpretation hat Woyzecks Wahnsinn, den Mordauftrag, intrinsisch, d.h. drama-immanent zu erklären. Das Motiv dafür muss infolgedessen einzig und allein in der Täter-Opfer-Beziehung liegen.

Richtet man sein Augenmerk darauf, wird schnell deutlich, dass eine banale Eifersucht, die zudem im ersten Handschriftenentwurf noch kaum anschaulich gemacht wird, die Handlung nicht zu tragen vermag. In der Literatur wird Wahnsinn (fast) immer als Ausdruck, als Sichtbarmachung einer extremen emotionalen Anspannung, d.h. nicht vereinbarer emotionaler Gegensätze verwendet. Auch in dieser Hinsicht sollte sich die Woyzeck-Rezeption Shakespeares Hamlet rekapitulieren. Hamlet spielt den Wahnsinnigen - und zwar mehr als ihm gut tut, im Zusammenhang mit der von ihm aufgedeckten familiären Katastrophe des Brudermordes seitens des Onkels und der Heirat von Hamlets Mutter mit dem Mörder, zeitgenössisch als Inzest bzw. Blutschande kategorisiert. Ophelia, an der der Dänenprinz seinen Mutterkomplex abreagiert, wird echt wahnsinnig. Büchner zitiert diese Thematik wörtlich in seinem Revolutionsdrama. Wer genau hinsieht, bemerkt die unterschwelligen dunklen Äußerungen in den Dialogen von Woyzeck und Marie, bis hin zun ihrem fatalen Ausruf: "Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz", der, richtig verstanden, einen hinreichenden Grund für Woyzecky letzendlich fast vollständigen Identitätsverlust darbietet, wenn er nämlich seine Daten, Namen usw., von einem Blatt ablesen muss. Merkwürdig genug, dass das Büchner-Publikum bislang meistens durchaus spürt, was es bislang noch nicht begreift.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0