Realismus

Die Literaturwissenschaft reiht Georg Büchner unter den Epochenbegriff Realismus ein und schafft damit mehr Verwirrung als Erklärung. Die Figur Woyzeck auf der Bühne ist im Vergleich zu dem historischen durch und durch idealisiert und was bitte schön hat der mehrfach auftretende Narr mit seiner Märchensprache oder die Märchenparabel mit Realismus zu schaffen? Woyzeck verlässt die Kaserne nach Gutdünken, d.h. der Autor verwendet nicht die geringste Mühe im Hinblick auf einen ernstzunehmenden militärischen Kontext, was Herzogs Woyzeck-Film interessanterweise für verbesserungswürdig hält. Ein wirklicher Unteroffizier bzw. Tambourmajor war damals nicht weniger ein „armes Soldatenschwein“ als ein einfacher Soldat und keineswegs in der Lage eine Liebschaft mit „schön Gold“ flachzulegen. Mittlerweile hat man indes zugestanden, dass Büchner mit einem Fuß in der Romantik wurzelt – und zwar mehr noch in der französischen als in der deutschen. Übrigens ist auch der Menschenversuch bzw. das Ernährungsexperiment keineswegs realistisch zu verstehen. Es gab zwar zeitgenössische Ernährungsexperimente, aber erstens nicht mit psychisch fragilen Probanden und zweitens waren das (vergleichsweise) Massenversuche mit ganz klarem Erkenntnisinteresse: Soldaten möglichst billig, gleichzeitig aber ohne gesundheitliche Schäden zu ernähren. Kollateralschäden wie sie die Figur Woyzeck nach Ansicht des Sozialdrama-Ansatzes darstellt, wären also im Sinne der Experimente höchst unlogisch und daher tunlichst zu vermeiden. Was Georg Büchner seine Nebenfiguren (erst ab dem zweiten Handschriftenenturf) auf der Bühne mit Woyzeck anstellen lässt, ist Sadismus und sexuell konnotiert. Beleg dafür sind im Falle des Hauptmanns  die merkwürdigen Gesprächsthemen beim Rasieren, im Falle des Doktors dessen Interesse für Woyzecks Ausscheidungen unmittelbar vor seiner Nase, was völlig dem widerspricht, was die Handlung eigentlich fordern sollte, einen gehörigen Abstand des Urinierenden vom Labor. Zudem weden beide, Hauptmann und Doktor als pädophil dargestellt.

 

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